Würde ich alles nochmals genau gleich machen?

René Albert

Jeder von uns würde vieles anders machen, wenn wir wieder zurückkönnten. Alles anderes ist gelogen

„Ich würde alles genau gleich machen.“ Diesen Satz hört man oft von berühmten Schauspielern oder Models, – meist begleitet vertrauenserweckenden Lächeln, als wäre ein makelloses Leben das höchste Ziel. Und das alles wahr was gerade gesagt wurde. Aber mal ehrlich, wir wissen alle dass das totaler Bullshit ist: Wer von uns hat noch nie zurückgeblickt und innerlich gezuckt?

Die Wahrheit ist: Ein Leben ohne Reue zu behaupten, ist keine Stärke – oft ist es einfach selektive Erinnerung.

Reue ist kein Makel der menschlichen Erfahrung, sondern ein fester Bestandteil davon.

Sie zeigt Bewusstsein, Entwicklung und den Mut, sich weiterzuentwickeln.

Unsere Fehltritte anzuerkennen schwächt unsere Geschichte nicht – sie macht sie reicher.

Denn wahre Weisheit besteht nicht darin, Fehler zu vermeiden, sondern aus ihnen zu lernen.

Ich zum Beispiel würde 1000 Dinge anders machen wenn ich nochmals zurückkönnte. Nicht alles aber vieles. Da wird mir grade schwindelig. Privat, in Beziehungen, in der Familie, mit Freunden, im Job, und so weiter. Und jetzt komm mir nicht damit, dass du das anders siehst. Wir sind ja nicht 15 Jahre alt, oder?

Reue verstehen: Eine natürliche menschliche Emotion

Springen wir jetzt deshalb aus dem Fenster? Nein. Reue ist eine der häufigsten – und zugleich konstruktivsten – menschlichen Emotionen. Sie entsteht, wenn wir erkennen, dass eine andere Entscheidung zu einem besseren Ergebnis hätte führen können. Psychologisch gesehen funktioniert Reue wie ein internes Überprüfungssystem: Sie hilft uns, vergangene Entscheidungen zu bewerten und künftige besser zu treffen. Es ist das Gehirn, das fragt: „Was kann ich daraus lernen?“

Weit davon entfernt, nur unangenehm zu sein, spielt Reue eine zentrale Rolle in unserer moralischen Entwicklung, unserem Urteilsvermögen und unserem persönlichen Wachstum. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass beim Empfinden von Reue genau die Hirnareale aktiv werden, die für emotionale Regulation und Problemlösung zuständig sind. Das deutet darauf hin: Es geht nicht nur um Schmerz – es geht um Fortschritt.

Menschen, die über ihre Reue reflektieren, treffen oft überlegtere Entscheidungen, die besser zu ihren Werten passen. Kurz gesagt: Reue ist nichts, was man unterdrücken oder verdrängen sollte – sie ist eine Quelle von Einsicht. Keine rote Warnlampe, sondern ein innerer Kompass, der uns auf eine klügere Version unserer selbst hinweist.

Selbsterkenntnis und Reflexion: Werkzeuge für persönliches Wachstum

Selbsterkenntnis ist die Grundlage für persönliches Wachstum. Sie beschreibt die Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten und die eigenen Gedanken, Handlungen und Muster mit Klarheit und Ehrlichkeit zu betrachten. In Kombination mit Reflexion wird daraus ein kraftvolles Werkzeug für Veränderung.

Wenn wir über vergangene Entscheidungen – gute wie schlechte – nachdenken, erkennen wir das „Warum“ hinter unseren Handlungen. Waren wir getrieben von Angst? Stolz? Dem Wunsch nach Anerkennung? Diese Art der Selbstbefragung ist kein Grübeln über Fehler, sondern ein Versuch, sie zu verstehen.

Studien zeigen, dass Menschen, die regelmässig über sich selbst reflektieren, bewusstere Entscheidungen treffen, die stärker mit ihren Werten übereinstimmen, und besser auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet sind. Reflexion hilft uns, wiederkehrende Muster zu erkennen und gezielt neue Wege einzuschlagen. Sie lehrt uns, innezuhalten, bevor wir reagieren, und mit Absicht zu korrigieren. Achtung: über sich selbst reflektieren bedeutet nicht, von Schuldgefühlen zerfressen zu werden. Du bist nicht für alles Schlechte verantwortlich! Aber Realismus hilft. Denn:

Wachstum geschieht nicht zufällig – es ist ein bewusster Prozess, der durch Selbsterkenntnis angetrieben wird. Je ehrlicher wir mit uns selbst sind, desto mehr Kraft gewinnen wir, um eine bessere Zukunft zu gestalten.

Häufige Lebensreue: Was Menschen rückblickend anders gemacht hätten

Bedauern macht keine Ausnahmen – es berührt alle Bereiche des menschlichen Lebens. Daten zeigen immer wieder: Die meisten Menschen tragen Reue in bestimmten Lebensbereichen – oft in Momenten, in denen sie das Gefühl hatten, nicht ihrem Potenzial oder ihren Werten gerecht geworden zu sein.

Eine gross angelegte Studie des Forschers Neal Roese von der Northwestern University ergab, dass der häufigste Bereich für Lebensreue die Bildung ist. Viele Menschen wünschen sich rückblickend, sie hätten mehr gelernt, ein anderes Fach gewählt oder ein Studium abgeschlossen, das sie aufgegeben haben. Oder irgendwann einfach etwas Neues gemacht hätten.

Berufliche Entscheidungen folgen dicht dahinter. Zahlreiche Menschen bedauern, keine oder zuwenige Risiken eingegangen zu sein, zu lange in unbefriedigenden Jobs geblieben zu sein oder ihre wahren Leidenschaften nicht verfolgt zu haben. Zuwenig gereist, nie im Ausland gelebt, einfach zuwenig Mut gehabt haben. Laut einer Umfrage von 2021 gaben fast 40 % der Befragten an, dass sie sich einen anderen Karriereweg gewünscht hätten. 40% sind ziemlich viel!

Auch zwischenmenschliche Beziehungen – ob romantisch, familiär oder freundschaftlich – sind ein häufiger Quell von Reue. Verpasste Chancen, ungelöste Konflikte oder unausgesprochene Gefühle hinterlassen oft tiefe, langanhaltende Spuren. Viele Menschen berichten, dass sie es bereuen, zu wenig Zeit mit ihren Partnern oder Kindern verbracht oder nicht das ausgesprochen zu haben, was ihnen wirklich wichtig war. Oder manche waren einfach zulange in einer Beziehung mit dem oder der Falschen.

Solche Bedauern sind keine Ausnahme – sie sind zutiefst menschlich. Sie erinnern uns daran, dass wir alle Kapitel in unserem Leben haben, die wir gern umschreiben würden. Doch gerade durch das bewusste Anerkennen dieser Gefühle gewinnen wir Klarheit darüber, was uns wirklich wichtig ist – und wie wir unser Leben künftig gestalten möchten.

Reue annehmen: Aus Rückblick Handlung machen

Reue als Katalysator für Veränderung

Richtig eingesetzt, kann Reue ein kraftvoller Anstoss für Veränderung sein. Sie ist nicht nur ein Gefühl, das du aushalten musst – sondern ein Signal zum Handeln. Der erste Schritt besteht darin, der Reue ohne Urteil zuzuhören. Was will sie dir sagen? Genau dort beginnt die Transformation.

Setze dir neue Ziele, die mit den gewonnenen Erkenntnissen übereinstimmen – sei es die Rückkehr an die Uni, ein beruflicher Neuanfang oder das Priorisieren deiner Beziehungen.

Wenn deine Reue andere Menschen betrifft, überlege, ob es sinnvoll ist, Wiedergutmachung zu leisten. Eine aufrichtige Entschuldigung oder das Wiederherstellen eines Kontakts kann Heilung und Abschluss bringen.

Untersuche auch deine Verhaltensmuster: Gibt es Gewohnheiten oder Denkweisen, die immer wieder zu verpassten Chancen oder schlechten Entscheidungen führen? Nimm dir vor, diese Muster zu verändern – selbst kleine Schritte können grosse Veränderungen bewirken.

Das Ziel ist nicht, die Vergangenheit auszulöschen, sondern sie zu ehren, indem man es künftig besser macht. Wenn wir Reue in Motivation verwandeln, wird sie von einer Last zu einem Bauplan für persönliches Wachstum.

Also: Der Wert ehrlicher Selbstreflexion

Reue ist nichts, dem wir ausweichen sollten – sondern etwas, das wir verstehen müssen. Sie zeigt uns, wo wir über uns hinausgewachsen sind, welche Lektionen wir gelernt haben und welche Werte wir vernachlässigt haben. Wenn wir unsere Reue ehrlich anerkennen, gewinnen wir eine tiefere Form von Selbstbewusstsein – nicht aus Scham, sondern aus dem Wunsch zu wachsen.

Ehrliche Reflexion verwandelt Reue von einer Schmerzquelle in einen Kompass für ein bewussteres Leben. Sie schärft unsere Prioritäten, stärkt unsere Beziehungen und vertieft unser Gefühl für Sinn.

Ein erfülltes Leben entsteht nicht daraus, keine Reue zu haben – sondern daraus, ihr zuzuhören und den Mut zu finden, sich durch sie weiterzuentwickeln.

Die richtige Antwort auf die Frage, ob wir alles genau gleichen machen würden ist also “auf keinen Fall.”